Die Hitze im Ort kotzte mich schon an, als ich noch nicht einmal ganz aus dem Zug gestiegen war. Die Luft staute sich in den engen Gassen wie eine Scheibe alter vergammelter Käse und war zum Schneiden dick. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, warum ich die Idee, den Auftrag anzunehmen, irgendwann gut gefunden hatte, aber ich konnte mich nicht erinnern. Der Bahnhof war noch viel abgefuckter, als ich ihn in Erinnerung hatte, und die Nutten rochen nach billigem Deo, Schweiß und Alkohol. Ich ignorierte die Taxifahrer, die mich bedrängten, um mich dann auf der Fahrt mit endlosen Umwegen abzuzocken, und lief stattdessen zu Fuß, bis ich die schäbige Absteige erreichte, die es tatsächlich immer noch gab, obwohl ich so lange nicht mehr hier gewesen war.
Der Typ an der Rezeption sah aus wie ein Junkie, aber vielleicht waren das an seinen Armen auch nur Mückenstiche, jedenfalls waren seine Arme so entzündet, dass man es nicht unterscheiden konnte. Er blickte nicht einmal auf, als ich ihm einen Geldschein hinstreckte, sondern schob mir nur einen der Schlüssel zu, die auf dem Tresen lagen. Ich fragte gar nicht weiter, die Zimmer waren eh alle scheiße, es war ganz egal, welches er mir gab.
Ich stieg in den zweiten Stock hinauf und als ich meine Türe aufsperren wollte, fand ich sie nur angelehnt. Instinktiv griff ich nach hinten an meinen Hosenbund, aber ich trug ja keine Waffe mehr, seit ich nicht mehr im Dienst war, und wieder ärgerte ich mich, dass es mir noch immer passierte, dass ich danach greifen wollte.
Das Zimmer war natürlich leer und die Luft stickig und ich öffnete das Fenster, was aber nur dazu führte, dass von draußen noch heißere und schwülere Luft hereinströmte.
Die Tagesdecke auf dem Bett war grau und verschlissen und als ich sie zurückschlug, sah ich die vergilbten Laken mit noch mehr Rissen und so deckte ich sie wieder darüber und ging ins Bad. Das Klo war mit Urinstein zugesetzt und das Fenster klemmte, aber es stand gerade so weit offen, dass jede Art Ungeziefer jederzeit nach Belieben rein oder raus konnte. Ich drehte den Wasserhahn auf, aber es tropfte nur etwas braune Brühe heraus und so ging ich zurück ins Zimmer, zündete mir eine Zigarette an und legte mich auf das Bett, das so weit durchhing, dass ich dachte, ich läge in einer Hängematte.
Ich hatte mein Handy auf den Nachttisch gelegt und auch versucht, das Ladegerät anzustecken, aber scheinbar hatte jemand die Steckdose für zuhause benötigt und einfach ausgebaut und nur die Drähte offen aus der Wand hängen lassen. Ich rauchte ein paar Zigaretten, aschte einfach auf den Boden, weil es natürlich keinen Aschenbecher gab, und es in diesem Dreckloch sowieso egal war, und drückte die Kippen jeweils einfach am Bettgestell aus und schnippte sie dann in eine Ecke des Zimmers.
Dreißig Jahre als Cop hatten mich Geduld gelehrt und so lag ich einfach da, starrte an die Decke und dachte an gar nichts. Mit den Stunden wurde das Licht im Zimmer immer diffuser, die Sonne war abgewandert, aber das bedeutete noch lange nicht, dass es abkühlte, im Gegenteil, jetzt spielte der Asphalt vor dem Haus seinen Joker aus und gab die Hitze des Tages, die er gespeichert hatte, langsam an die Luft ab.
Ich verfluchte Ricardo, diesen Wichser, dass er sich wieder darauf eingelassen hatte, zu dealen, und natürlich wie immer so schnell in der größten Scheiße gelandet war, die er alleine nie mehr hätte ausbaden können.
In eine der Glasscheiben der Fenster war ein Ventilator eingebaut, der sich träge drehte, und jetzt, als draussen langsam die Lichter angingen, warf irgendeine Neonreklame ihr Licht in die Rotoren, das sich darin brach und lustige Muster an die Wand warf. Die Geräusche der Stadt, die langsam erwachte und die Menschen nach draußen lockte, um vermeintlich etwas Abkühlung zu finden, lullten mich ein und irgendwann fielen mir trotz aller Anstrengung die Augen zu.
2.
Niemand kann sich vorstellen, wie riesig die Mündung einer Automatik aussieht, solange er noch keine auf sich gerichtet gesehen hat. Ich starrte in das schwarze Loch und bildete mir ein, die Patrone zu sehen, die ein hämisches Grinsen aufgesetzt hatte, in der Vorfreude, gleich in mich einzuschlagen. Sie hatten mir beide Waffen abgenommen, die aus dem Holster im Gürtel und die, die ich an der Wade versteckt trug. Der Schweiß lief mir in Sturzbächen den Rücken hinunter, während ich darum kämpfte, die Panik in mir zu verdrängen und nach einer Lösung suchte, wie ich hier noch einmal heil davonkommen könnte. Er hielt die Waffe ganz ruhig, ein amüsiertes Lächeln spielte um seinen Mund, er war Profi durch und durch und genoss die Situation förmlich. Klar, einen hochrangigen Bullen wie mich umzulegen, schaffte nicht jeder, und da wir hier am Hafen waren, würde er mich danach auch elegant verschwinden lassen, so dass er damit durchkommen würde.
Einer Kugel auszuweichen, die aus so kurzer Distanz auf einen abgefeuert wird, ist quasi unmöglich. Wenn sich der Finger am Abzug krümmt, ist es zu spät, dann schafft man es nicht mehr. Bewegt man sich zu früh, wenn der Schütze noch entspannt ist, hat man auch keine Chance. Auf zwei Meter kann er immer noch reagieren und tödlich treffen. Nein. Die einzige Möglichkeit, die es gab, war den Moment abzuwarten, den Augenblick zu erwischen, wenn er gerade überlegte, wohin genau er den Schuss platzieren wird. Die Millisekunde, bevor er abdrückt, wenn er sich festgelegt hatte, dann hat man den Hauch, den minimalen Hauch einer Chance, sich aus der Flugbahn zu werfen. Wie beim Elfmeterschießen. Da wartet der Schütze genau, bis er merkt, der Torwart hat sich für eine Ecke entschieden, und nutzt den Moment aus. Nur, die Kugel wird einen trotzdem erwischen. Es geht nur darum, dass sie einen nicht tötet.
Ein Schweißtropfen löste sich von meiner Stirn, rann durch meine Augenbrauen und von dort über mein Augenlid und tropfte schließlich auf meine Wange und lief über meine Backe. Er hatte es nicht gesehen und jetzt dachte er, es wäre eine Träne und sein Lächeln wurde höhnisch. Es amüsierte ihn, dass ein harter Hund wie ich heulte, und dann merkte ich an seinen Augen, dass er gleich abdrücken würde.
Ich hatte mein ganzes Gewicht unauffällig auf mein rechtes Bein verlagert und als ich sicher war, dass er gleich schießen würde, katapultierte ich mich mit aller Kraft nach links, um durch das geschlossene Fenster zu hechten. Ich wusste, dass er mich erwischen würde, und ich versuchte, mich so gut ich konnte, auf den Schmerz vorzubereiten, der mich gleich durchfahren würde. Viele Kollegen hatten mir im Lauf der Jahre zu beschreiben versucht, wie es sich anfühlt, wenn einen eine Kugel erwischt. Aber nichts von dem, was ich mir bisher darunter vorgestellt hatte, kam auch nur annähernd an den Schmerz heran, den ich fühlte, als mich die Kugel an der rechten Schulter traf.
Zum Glück hatte er sich, als ich sprang, mit mir gedreht und so traf mich das Geschoss in einem günstigen Winkel und das schwere Kaliber beschleunigte meinen Sprung. Das Fenster war aus einfachem Glas und ich hatte gehofft, der Rahmen wäre so morsch wie der Rest dieses alten Hafengebäudes, eine riesige Holzhalle, die seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt wurde.
Die Kugel traf mich genau, als ich durch die Scheibe flog. Der Schmerz dröhnte durch meinen Körper und alles schien sofort still zu stehen. Wie eine Slow-Motion-Aufnahme sah ich die Glassplitter herunterrieseln, sie schwebten wie dicke, fette Schneeflocken sanft vom Himmel und auf einmal war ich wieder ein Kind und in den Bergen im Urlaub, stand am Fenster der Blockhütte meines Großvaters und sah dem Schnee draußen zu, während im Kamin ein heimeliges Feuer prasselte, gelegentlich unterbrochen von einem Knall, wenn das Holz der dicken Scheite barst. Der Knall! Er hallte in meinen Ohren nach, in einem unendlichen Echo, und plötzlich schüttete mein Biosystem alles an Adrenalin aus, was es nur verfügbar hatte, und mein Herzschlag ging mit einer maximalen Frequenz in den dunkelroten Bereich. Irgendwie schaffte ich es, zu denken, hoffentlich hat er keine Arterie getroffen, denn bei diesem Puls würde sich mein gesamtes Blut in wenigen Sekunden komplett aus meinem Körper pumpen.
Und dann kam der Schmerz, der bisher nur in meiner Vorstellung existiert hatte, als wolle mein Körper mich darauf vorbereiten, durch die Nervenbahnen in meinem Gehirn an, und die Zeitlupe endete abrupt. Ein Gefühl, als trennte mir jemand mit einer Kettensäge den Arm ab, so beschreibe ich es noch heute, und dann, dann war ich endlich durch das Fenster und fiel gut vier Stockwerke tief, bis ich in der Hafenmole aufschlug und das Wasser und der Schmerz und der Schock mir gnädig das Bewusstsein nahmen.
Ich schreckte schweißgebadet hoch und brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass ich nur geträumt hatte, den immer gleichen Traum, seit mich die Kugel erwischt hatte. Das Zimmer war jetzt wieder heller, draußen waren inzwischen alle Lichter angegangen und eine Reklametafel warf ihr fahles Licht durch die Fenster und tauchte den Raum in ein schwarzweißes, grell diffuses Licht und machte mich damit irgendwie zum Darsteller in einem alten Film Noir.
Im Nachbarzimmer war es laut geworden. Scheinbar stritt eine Nutte mit ihrem Freier, ich nahm das automatisch an, denn kein normales Paar wäre freiwillig in diesem Loch abgestiegen, noch nicht mal Paare, die nicht gesehen werden wollten. Hierher kamen nur Nutten und Junkies, stundenweise, und Freier, die zu besoffen waren, um noch viel wahrzunehmen.
Scheinbar hatten sich die beiden geeinigt, denn jetzt hörte man das Bett rhythmisch quietschen und während der Mann laut grunzte, hörte ich sie professionell stöhnen, unterbrochen von ein paar lapidaren Anfeuerungsrufen, wie toll er sei.
Ich zündete mir eine weitere Zigarette an und dann holte ich den Flachmann aus meiner Tasche, den ich vorsorglich mit Whiskey gefüllt hatte, und nahm einen tiefen Schluck.
Die Kippen, die ich alle in eine Ecke geschnippt hatte, ergaben schon einen stattlichen Haufen und seufzend zündete ich meine letzte Zigarette an und sah dann wieder auf mein Handy, ob ich vielleicht doch den Anruf verpasst hatte, auf den ich wartete.
Nebenan wurde es wieder laut. Die Frau schrie auf und kurz danach polterte es und dann hörte man ein Klatschen, scheinbar als er sie schlug und dann ein Wimmern und dann war wieder Stille.
Ich musste hier raus. Ich brauchte etwas zu Essen, ein paar sehr kalte Drinks, Zigaretten und vor allem frische Luft. Wobei Letzteres in diesem versifften Stadtteil vermutlich auch nicht wirklich garantiert war. Ich steckte das Handy ein und als ich nach dem Türknauf griff, ging das Geschrei im Nachbarzimmer wieder los. Ich fragte mich, was die zwei da veranstalteten. Es klang, als fielen ein paar Möbel um, dann schrie die Frau wieder auf, vermutlich schlug er sie wieder, dann hörte ich ein dumpfes Geräusch und danach ein Grunzen, das in ein Wimmern überging. Ich öffnete die Türe und trat einen Schritt auf den Gang, als die Nachbartüre aufgerissen wurde und gegen die Wand krachte. Eine Frau lief aus dem Zimmer. Sie war noch jung, auch wenn sie tonnenweise Make-up im Gesicht hatte, sah man sofort ihre Jugend. Sie trug die klassische Uniform aller Straßenhuren, einen Minirock, der kaum breiter als ein Gürtel war, halterlose Strümpfe, eine knappe Bluse in grellem Neongrün und hatte die Haare hochtoupiert wie ein Filmsternchen aus den Achtzigern. Ihr Gesicht war verschmiert von Schminke, Schweiß und vermutlich Tränen, die ihr seine Schläge in die Augen getrieben hatten.
Sie lief auf mich zu und sah mich an und hinter ihr kam ein Mann getorkelt. Er war bestimmt gute fünfzig, hatte einen gewaltigen Bauch und um seine Beine baumelte die Hose, die er versuchte, im Laufen hochzuziehen. Gleichzeitig presste er eine Hand auf seinen Unterleib, vermutlich hatte sie im beherzt in die Eier getreten, das war wohl der dumpfe Schlag gewesen, den ich gehört hatte, bevor sein Grunzen und Wimmern alles übertönt hatten. Er versuchte sie einzuholen, aber auf der Türkante stolperte er und fiel der Länge nach hin und landete mit dem Gesicht auf dem ekligen Flurteppich.
Ich hatte meine ganze Dienstzeit immer wieder mit solchen Typen und auch den Straßenmädchen zu tun gehabt. Erstere konnte ich gar nicht genug verachten. Ich hatte nichts gegen Männer, die bereit waren, für ein bisschen Liebe oder Ficken zu bezahlen, wenn sie sich dabei benahmen. Aber Typen in solchen Absteigen waren unterste Schublade. Sie wollten meistens nur harten Sex, den Frauen wehtun und es war ihnen scheißegal, in welcher Umgebung sie das taten, wie erniedrigend das war, für die Frauen, die nie vorgehabt hatten, so tief abzustürzen, dass sie sich mit Freiern wie diesen über Wasser halten mussten, oder schlimmer, von ihren Zuhältern dazu gezwungen wurden.
Sie war jetzt auf meiner Höhe, wollte an mir vorbeihasten, während der Koloss am Boden stöhnte und sich anschickte, sich wieder aufzurichten. Er würde sie garantiert einholen, denn auf ihren High Heels war sie nicht wirklich schnell. Mein Arm schoss nach vorne, packte ihren Oberarm und dann schleuderte ich sie mit einem kräftigen Ruck in mein Zimmer und baute mich vor der Türe auf. Jetzt hatte sich der Kerl hochgehievt und wankte ebenfalls den Flur entlang auf mich zu.
»Sie ist da die Treppe runter«, lächelte ich ihm zu und zwinkerte verschwörerisch mit einem Auge.
Er sah mich kurz an, nickte, machte seine Hose endlich ganz zu und dann hörte ich ihn auch schon die Treppe runterpoltern.
3.
Wir saßen in einem winzigen Lokal in einer Seitenstraße. Ich hatte mein zweites Bier, das eiskalt aus dem Hahn gezapft war und eine Schüssel mit frittierten Sardinen vor mir. Ich aß gierig und ab und zu riss ich dazu ein Stück Brot ab, um dann wieder mit dem Bier nachzuspülen. Sie hatte mir ihre Schachtel mit Zigaretten auf dem Tisch liegen gelassen und sich kurz entschuldigt, um sich etwas frisch zu machen.
Ich nahm mir eine ihrer Zigaretten und blies nachdenklich den Rauch aus. Noch immer hatte ich den Anruf nicht erhalten, auf den ich wartete. Ob sie das Hotel beobachteten? Das wäre schlecht, sehr schlecht, denn eigentlich hätte ich mich nicht wegbewegen sollen. Nachdem ich die Frau in mein Zimmer gezerrt hatte und ihr Freier der falschen Fährte die Treppe hinabgefolgt war, hatte ich die Türe geschlossen. Sie stand noch immer heftig atmend einfach da und starrte mich an. Das Licht der Neonreklame ließ sie fahl und alt aussehen und sie war angespannt, bereit, sich erneut zu wehren, falls auch ich auf sie losging.
Ich hatte die Hände gehoben und ihr meine Handflächen gezeigt, eine Geste, die immer beruhigend auf das Gegenüber wirkt.
»Keine Angst, ich tue Ihnen nichts. Ich wollte Sie nur vor dem fetten Schwein retten. Ich habe die Prügelei gehört, die ihr euch geliefert habt.«
Sie hatte mich eine Weile prüfend angesehen und schließlich nickte sie:
»Danke!«
Eine ganze Weile standen wir uns schweigend gegenüber, bis ich sie fragte:
»Kennen Sie ein Lokal in der Nähe, wo ich ein kaltes Bier und etwas zu essen bekomme?«
Ich nahm mir noch eine der Zigaretten und starrte dumpf vor mich hin. Es war einfach nicht mehr wie früher, als so eine Scheiße mein tägliches Brot war. Ich war ausgelaugt, nur von den paar Stunden. Und naja, auch natürlich von dem Gespräch, das meinem ’’Auftrag’’ vorangegangen war.
Wieder verfluchte ich Ricardo, wegen diesem Trottel hatte ich den ganzen Schlamassel jetzt am Hals. Ricardo war ein junger Aufschneider, der jeden Tag wie ich am Strand war. Nur, während ich versuchte, mich durch sämtliche Bücher zu lesen, zu denen ich in meiner Dienstzeit nie gekommen war, hing er mit ein paar anderen Schnöseln einfach ab. Die meisten Jungs aus der Clique brauchten nicht zu arbeiten, sie waren schon reich geboren und verbrachten ihre Tage damit, Frauen aufzureißen, zu trinken und sich irgendwelchen Unsinn auszudenken. Einer von ihnen, Pepe, gefiel sich in der Rolle des Superdealers. Oft am Tag beobachte ich von meinem Platz aus, wenn ein paar junge Frauen zu ihm kamen, um ein wenig Stoff zu kaufen. Meist verhandelte er dann ein wenig, um danach hinter den Kabinen am Strand zu verschwinden. Sein Vater besaß mehr Geld als Gott und es war ihm scheißegal, an den Drogen etwas zu verdienen. Meist ließ er sich von einer der Käuferinnen einfach einen blasen, oder auch gleich abwechselnd von beiden, um dann mit einem selbstgefälligen Siegerlächeln, oder was er dafür hielt, wieder seinen Platz am Strand einzunehmen. Ricardo war der einzige in der Runde, der nichts hatte. Keinen Job, keine reichen Eltern, kein Geld. Er bewunderte diese Arschlöcher und vermutlich hatte er den ganzen Tag einen Ständer, weil sie ihn in ihren Kreisen duldeten.
Eigentlich war Ricardo das größte Arschloch von allen. Aber Ricardo war auch der, der mich aus dem Meer gefischt hatte, als ich mehr tot als lebendig mit meiner zerfetzten Schulter darin herumgetrieben war. Und jemand, der dir das Leben gerettet hat, ist jemand, dem du für immer verbunden und verpflichtet bist. Zumindest war das in meiner Welt so. Also tat ich seitdem alles, um ihn aus größerem Ärger herauszuhalten, ihn zu beschützen und ein Auge auf ihn zu haben.
Und dann hatte er irgendwann seine große Chance gewittert, mitzumischen, ein Großer zu werden. Nur weil er eben ein blöder Wichser war, ging das alles schief und so kam er eines Nachts zu mir nach Hause, blutend, grün und blau geschlagen und zitternd wie ein kleines Mädchen.
Er hatte mir eine wirre Geschichte erzählt, von einem Drogendeal, viel Geld und warum alles schiefgelaufen war und er natürlich nichts dafür konnte. Wäre er nicht so zugerichtet gewesen, ich hätte ihn persönlich windelweich geschlagen, an diesem Abend. Er hatte sich mit dem Don des Gebiets angelegt, Drogen gestohlen und war so gut wie tot.
Ich versteckte ihn zwei Tage bei mir und überlegte hin und her, was zu tun war und schließlich machte ich mich auf, zu einer Audienz, um die Sache geradezubiegen.
Don Capreone war noch einer der Bosse ganz alter Schule. Und ich ein ehemaliger Bulle. Ich wusste, dass er nichts durchgehen ließ. Und er kannte meinen Ruf. Ich war ein knallharter Cop gewesen, hatte viele seiner Leute entweder erschossen oder eingesperrt. Aber mein Ruf war auch, dass mein Wort galt und ich absolut integer war. Auf eine subtile – fast perverse – Art respektierten wir beide uns.
Wir sprachen lange, an diesem Nachmittag, tranken fast zwei Flaschen Wein und diskutierten bis aufs Blut. Er wollte Ricardo das alles nicht so einfach durchgehen lassen. Aber er wollte auch keinen Krieg mit den Carabinieri, denen ich als Colonnell angehört hatte.
Und schließlich einigten wir uns. Er schickte mich auf ein Selbstmordkommando. Eine verfeindete Familie versuchte seit einiger Zeit, in sein Gebiet einzudringen. Er wollte Stärke zeigen und einen großen Drogendeal mitten in ihrem Revier abwickeln, natürlich nur zum Schein. Und er würde den Deal groß ankündigen. Ich sollte Drogen liefern und das Geld dafür in Empfang nehmen. Nur, ich würde keine Drogen dabei haben und die Käufer würden keine Käufer sein, sondern Killer, die mir, respektive ihm, zeigen sollten, dass er dort nichts verloren hatte. Der Masterplan war, ich käme mit dem Geld zurück und hätte die Killer erledigt. Käme ich ohne Geld, weil die gar keines mitbrächten, und ich erledigte sie, auch gut. Oder ich ging dabei drauf. Was ihm scheißegal wäre. In allen drei Fällen wäre Ricardo aus der Sache raus. Eine aussichtslose Mission. Für mich. Aber ich sagte zu und gab ihm mein Wort.
4.
Sie kam zurück an den Tisch und sah völlig verändert aus. Ihre Haare waren jetzt offen und fielen in sanften Locken weich um ihr schön geschnittenes Gesicht. Sie hatte sich die verschmierte Schminke einfach abgewaschen und jetzt sah man erst richtig ihre Jugend und ihre wundervolle zarte Haut, die gar kein Make-up nötig hatte. Ihre Augen strahlten und sie sah plötzlich so vital und gesund aus. Durch das schummrige Licht im Lokal wirkte das grässliche Neongrün ihrer Bluse fast wie Anthrazit und als sie wieder am Tisch saß, verdeckte der den viel zu kurzen Minirock, die halterlosen Netzstrümpfe und die goldglänzenden High Heels. Ich starrte sie eine ganze Weile einfach nur fasziniert an und schließlich wurde sie verlegen und drehte eine der Locken um ihren Finger und dann nahm sie sich auch eine Zigarette und sah mich an:
»Bekomme ich auch was zu trinken?«
Später standen wir auf der Straße und wussten beide nicht so recht, was wir sagen sollten und schließlich fragte sie mich:
»Gehst du wieder ins Hotel?«
Ich nickte und sie sah mich prüfend an und dann zögerte sie nochmals, bis sie endlich sprach:
»Du bist ein Bulle, nicht wahr?«
Ich musste schmunzeln. Sie war gut. Oder ich roch immer noch danach. »Ja.«, sagte ich dann einfach. Und nach einer Weile: »Aber nicht mehr im Dienst.« Ich schnippte meine Zigarette, die ich aufgeraucht hatte, fort und dann sah ich sie wieder an: »Nicht mehr im Dienst.«
Sie nickte:
»Okay. Ich muss auch ins Hotel, mein Handy liegt noch in dem Zimmer.«
Und dann liefen wir schweigend nebeneinander her den Weg zurück und als wir um die letzte Hausecke bogen, blieben wir beide wie angewurzelt stehen, weil vor dem Haus unzählige Polizeifahrzeuge standen, alle mit Blaulicht und ein Absperrband war vor dem Eingang zum Hotel und gerade kamen noch zwei Krankenwagen und eine Feuerwehr an.
Mein Herz raste und innerlich zerbarst ich förmlich vor Aufregung, aber ich war zu lange darauf trainiert worden, mir das nicht anmerken zu lassen. Und ich musste wissen, was passiert war und so hakte ich ihren Arm bei mir unter und dann zog ich sie mit und wir liefen ganz langsam auf den Eingang und den Polizisten, der davorstand, zu.
Ich musste unbedingt herausfinden, was geschehen war und jetzt kam mir zugute, dass sie, von ihrem Gesicht und den Haaren abgesehen, wie eine Bahnhofsnutte aussah.
Kurz bevor wir den Eingang erreichten, flüsterte ich ihr zu: »Ich bin ein Kunde und du willst mit mir in dein Zimmer und falls sie das nicht erlauben, machst du Theater und bestehst darauf, dein Handy zu holen!«
Sie nickte unmerklich und dann waren wir angelangt und der Uniformierte hob die Hand:
»Sie können hier jetzt nicht rein! Bitte gehen Sie weiter.«
Sie schaute ihn an und dann zog sie die Augenbrauen zusammen und begann eine endlose Diskussion, in der sie abwechselnd schrie, tobte, heulte und bettelte und schließlich wurde es dem Kerl zu viel und er rief einen anderen Beamten und sagte ihm, er solle sie kurz nach oben begleiten, um ihr Handy zu holen und dann schlüpften beide unter dem Absperrband durch und verschwanden im Gebäude.
Ich wollte den Polizisten fragen, was denn passiert sei, aber er ahnte das und drehte sich demonstrativ von mir weg und starrte auf einen imaginären Punkt, und so blieb mir nichts anderes übrig, als nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten und zu warten.
5.
Als sie endlich wieder herauskam, trug sie ihr Handy demonstrativ vor sich her und dann nickte sie mir kurz zu und ich nahm wieder ihren Arm und wir gingen einfach weiter.
»Hast du was sehen können?«
Sie war bleich und zitterte leicht und wir blieben stehen und sie zündete sich mit fahrigen Fingern eine Zigarette an:
»In deinem Zimmer liegen vier Männer. Alle erschossen. Überall ist Blut und Fliegen schwirren herum und ich …« Sie wandte sich um und dann erbrach sie sich in den Rinnstein und ich legte meine Arme um ihre Schultern und hielt sie einfach fest, bis ihr Körper aufhörte zu zittern.
Dann gingen wir langsam weiter, sie hatte sich eine neue Zigarette angezündet und auch mir eine gereicht und wir hingen unseren Gedanken nach. Vier Männer also. Ich versuchte, mir zusammenzureimen, was passiert war. Der abstruse Plan von Don Capreone war es gewesen, mich anzukündigen, darauf zu vertrauen, dass die örtliche Familie die Käufer meiner fiktiven Ware erledigen würde, und dann stattdessen zu mir käme, um an mir ein Exempel zu statuieren. Und im Idealfall hätte ich sie alle umgelegt, was natürlich völliger Schwachsinn war. Nun, wahrscheinlich hätte das auch soweit funktioniert, nur war wohl einer aus Versehen übergeblieben und der hatte dann die Killer im Hotel erledigt und war selbst dabei draufgegangen.
Wir hatten jetzt die Rückseite des Hotels erreicht und dort parkte eine dunkle Limousine mit ganz speziellen Felgen und ich erkannte den Wagen sofort wieder, ich hatte ihn gesehen, als ich angekommen war, da hatte er gegenüber des Bahnhofs gestanden. Sie hatten mich also tatsächlich die ganze Zeit beobachtet. Der Wagen war leer und ich probierte, die Türe zu öffnen. Natürlich war sie nicht abgeschlossen. Man schließt Fluchtwagen nicht ab. Und natürlich war in meinem Zimmer im Hotel kein Geld. Man nimmt das Geld nicht mit, bei einem neuen Geschäftskontakt. Entweder hat man gar keins dabei, weil man die Ware klauen will, oder man lässt es im Auto und holt es erst, wenn man die Lage gecheckt und die Ware geprüft hat. Ich beugte mich in den Fußraum und zog am Hebel und die Kofferraumklappe schwang auf. Und tatsächlich, darin lag eine schwarze Sporttasche und ich nestelte den Reißverschluss auf, und dann stockte mir kurz der Atem, denn sie war randvoll mit Geld.
Sie war neugierig neben mich getreten und blickte ebenfalls auf den Inhalt der Tasche.
»Das ist …«, sie stockte kurz, »das ist eine Menge Geld!«
Ich nickte: »Oh ja.«
Ich zog den Reißverschluss zu, klappte den Kofferraumdeckel herunter, wischte meine Fingerabdrücke sorgfältig vom Blech und vom Hebel im Fußraum und dann schulterte ich die Tasche.
»Was wirst du damit tun?« Sie sah mich abwartend an.
»Ich bringe es dem, der mich hierhergeschickt hat.«
Wir sagten beide eine ganze Weile nichts. Dann schluckte sie ein paar Mal:
»Was man damit alles anfangen könnte … willst du es wirklich hergeben? Man könnte ein ganz neues Leben beginnen …«.
Sie beobachte mich genau und ich sah in ihr Gesicht. Wenn man ihre grässlichen Klamotten ausblendete und nur ihr Gesicht betrachtete … Gott, sie war wunderschön! Im fahlen Licht der Straßenlaterne sah sie aus wie ein Engel. »Ein gefallener Engel«, ging mir durch den Kopf.
Ich verstand zu gut, was sie meinte. Die Verlockung, irgendwo noch einmal ganz neu anzufangen. Ein neues Leben zu beginnen. Alles auf Null zu setzen. Aber das funktionierte nicht. Sowas funktionierte nie. Ich kannte genug, die es versucht hatten. Die irgendwann der Versuchung erlegen waren und abgehauen waren. Aber keiner war glücklich geworden. Wir haben nun mal unser Leben. Wir können es nicht einfach gegen ein anderes, neues, tauschen. Wir können es ändern, ja, wir können alles ändern. Aber wir können es nicht einfach abstreifen und jemand anderes sein, jemand neues. Das klappt nicht.
Ich schüttelte den Kopf:
»Das funktioniert nicht. Ich will nicht den Rest meines Lebens nach hinten schauen, ob sie mich endlich gefunden haben. Und solche Leute finden einen immer. Irgendwann.«
Jetzt nickte sie:
»Solche Menschen geben nie auf, bis sie einen finden.«
Wieder sahen wir uns an. Sie wirkte entspannter, jetzt, und dann sprach sie wieder:
»Und du stehst im Wort, oder?«
Ich musste schmunzeln. Sie war gut, wirklich gut.
»Ja. Ich stehe im Wort. Und das für jemanden, dem ich verpflichtet bin.«
»Dann war’s das jetzt? Mit uns?«
Wieder sah ich lange in ihr Gesicht, betrachtete ihre ebenmäßigen Züge, die wundervollen grünen Augen, ihre Jugend. So sollte sie aussehen. Nicht so, wie ich sie heute Nachmittag kennengelernt hatte. Mit der Schminke. Mit ihrer Uniform, die sie trug, auch um die Männer zu ertragen, die zu ihr kamen, sich nahmen, was sie wollten, für das bisschen Geld. Plötzlich regte sich eine Sehnsucht in mir, ein Verlangen, aber nach ihr als Mensch, nicht nur als Frau.
»Das muss es nicht. Warum kommst du nicht mit mir? Ich habe eine gute Rente und ein kleines Haus am Meer.« Ich merkte, wie die Aufregung in mir hochstieg. »Und einen Garten am Haus«, schob ich dann noch etwas hilflos hinterher.
Sie sah mich an, Erstaunt erst, dann lächelte sie:
»Du hast noch nie eine Frau geschlagen, nicht wahr?«
Ich schüttelte den Kopf: »Nein! Noch nie.«
Wir standen da, starrten uns gegenseitig an und dann, als es fast unerträglich wurde, war sie es, die meinen Arm nahm.
»Machst du eine ehrbare Frau aus mir?«
Ich musste lachen: »Ja. das werde ich.«
Wir setzten uns langsam in Bewegung.
»Und können wir einen Hund haben?«
Wieder musste ich lachen:
»Ja, wenn du willst.«
»Und Babys? Können wir ein paar Babys haben?«
Und dann gingen wir los in Richtung Bahnhof und kurz blieb sie stehen, schaltete ihr Handy aus, das sie noch immer in der Hand hielt, und dann schleuderte sie es mit aller Kraft an die Hauswand, wo es in tausend Stücke zerbarst.

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